Mordreds Tales
© 2010 – 2024 Marcel Wolters







 

SCHOCKSCHWERENOT – DER KÄPT'N IST TOT



„Plopp”

Mit diesem „Plopp” verdoppelte sich schlagartig die Anzahl der Personen auf der Brücke der „North Star”, als Heiko direkt hinter dem Kapitän erschien.

Das „Plopp” ist kein Muss, wenn der Tod oder einer seiner Mitarbeiter erscheint. Ein leiser Knall, ein Zischen, sogar absolute Stille sind möglich. Heiko war sich noch nicht sicher, wie er sein Erscheinen akustisch untermalen sollte. Einmal probierte er es mit schallenden Fanfaren, aber es erschien ihm dann doch etwas dick aufgetragen. Außerdem beschwerten sich die Erzengel, es könnte zu Verwechslungen kommen, benutzten sie doch stets schallende Fanfaren, wenn sie in Gottes Auftrag eine Stadt glattbügelten. Nicht, dass Gott solche Aufträge je erteilen würde. Sodom und Gomorrha gingen nur durch ein Missverständnis unter. Gott regte heiße Schwefelquellen an, um aus den Städten Wellness-Oasen zu machen. Seitdem benutzt Gott nie wieder irgendetwas, das mit Äpfeln zu tun hat, wenn es um die Verarbeitung und Verbreitung von Informationen geht. Die Sache mit Adam und Eva hielt er noch für eine Kinderkrankheit im System. Seit Sodom und Gomorrha setzt Gott auf Unix.

Um also Patentstreitigkeiten mit den Erzengel aus dem Weg zu gehen, verzichtete Heiko auf Fanfaren und probierte die einzelnen Optionen nacheinander aus. Er war ja erst im zweiten Lehrjahr, es war also noch Zeit, sich zu entscheiden. Heute war das „Plopp” dran und Heiko war für den Augenblick nicht unzufrieden.

Kapitän Harald Olafson, ein erfahrener Mitfünfziger mit grauem, vollem Haar und einem seemännischen Hang zu Pfeifenkraut bermerkte den Ankömmling nicht. Er starrte in die Dunkelheit der Nacht, die über dem Atlantik lag und paffte ruhig seine Pfeife. Heiko räusperte sich.

„Was?”

Käpt'n Olafson drehte sich um und sah einem jungen Mann, Anfang 30 vielleicht, mit schulterlangem, schneeweißen Haar in die Augen. Vielmehr blickte er ihm in die Sonnenbrille. Der schwarze Ledermantel des Mannes bauschte sich auf, als stünde er mitten im Wind. Natürlich gab es auf der Brücke der „North Star” keinen Wind. Fenster und Türe waren geschlossen. Woher also sollte der Wind kommen?

Heiko bemerkte die Verwirrung im Blick des Kaptiäns. Augenblicklich hört der Mantel mit dem Bauschen auf.

„Das mit dem Mantel war zu viel, habe ich recht? Ich suche noch nach dem richtigen Auftritt.”

Harald Olafsons Verwirrung legte sich nicht. Schließlich war aus dem Nichts ein blinder Passagier aufgetaucht.

„Wer sind Sie?”

„Heiko”, anwortete Heiko. „Sensenmannanwärter im zweiten Ausbildungsjahr.”

„Sensenma … Sensenmann?”

„Anwärter. Bin noch in der Ausbildung.”

„Aber was … wie … warum … woher …”

„Woher?”, übernahm der Schnitter – nein Anwärter – das Gespräch, um dem Kapitän die Gelegenheit zu geben, sich zu sammeln. „Direkt aus der Unterwelt. Die Thanatos gGmbH zeichnet sich aufgrund eines interreligionalen Abkommens dafür verantwortlich, die Seelen der Toten zentral für alle Religionen in die Nachwelt zu begleiten. Wie? Als Vertreter der Thanatos gGmbH besitzt man die Fähigkeit, bzw. erlernt man die Fähigkeit, sich an beliebigen Orten zu materialisieren. Was? Kommt drauf an, was Sie meinen. Warum? Nun, sagen wir, dass ich nicht einer Kreuzfahrt wegen hier bin.”

Käpt'n Olafson sah eine Weile zu Boden und nickte dann verstehend.

„Einen Augenblick bitte”, sagte er schließlich und wandte sich den Armaturen der Brücke zu. Ein Klopfen auf eine Anzeige, das Betätigen eines Schalters …

„Aua! Verdammter Seelenverkäufer!”

Heiko griff in seinen Mantel und holte eine Sense aus der Innentasche.

„Was ist das?” fragte der Kapitän.

„Meine Sense.”

„Ist ein bisschen klein, oder?”

„Eigentlich nicht. Nur High Tech. Teleskopgriff, n-gefaltetes Blatt …”

Mit einem Schütteln seiner rechten Hand zog der Schnitter-Azubi die Stiel aus. Ein „Zing” später war das Sensenblatt ausgeklappt.

„Boah!”, staunte der Kapitän mit kindlicher Freude. „Darf ich mal?”

„Natürlich”, nickte Heiko. „Aber Sie werden es nicht können.”

„Warum?”

Der Sensenmann zeigte wortlos zum Steuerpult. Der Käpt'n drehte sich um und sah … sich selbst.

„Schockschwerenot! Ich bin ja tot!”

„Deshalb bin ich hier.”

„Oh!”

Ein Augenblick des Schweigens entstand. Schließlich fand der tote Kapitän seine Sprache wieder.

„Und jetzt?”

„Nun”, begann der Schnitter, „ich bringe Sie in die Unterwelt. Haben Sie nebenbei zwei Euro? Für den Fährmann. In der Unterwelt verbleiben Sie fürs Erste in der Obhut der Thanatos gGmbH, bevor Sie dann in die Ihrer Religion entsprechende Nachwelt oder eine solcher Ihrer Wahl weitergeschickt werden. Es wird nicht lange dauern. Es handelt sich nur um ein paar bürokratische Formalitäten.”

„Und ich kann mir meine Nachwelt selbst aussuchen?”

„Sofern nicht irgendeine Religion Anspruch auf Ihre Seele erhebt, ja. Probewohnen ist allerdings nicht möglich.”

„Aha.”

Wieder herrschte Stille.

„Also gut, gehen wir!”, meinte Harald Olafson letztlich.

„Keine Panik! Wir haben Zeit.”

„Aber haben Sie nicht noch andere … äh … Kunden?”

Heiko lächelte. „Ich bin nur Azubi, erinnern Sie sich? Es ist das erste Mal, dass ich so was selber durchziehe, stehe aber unter Aufsicht vom Chef persönlich. Sie sind mein einziger … nun … Kunde, Auftrag … Nennen Sie es, wie Sie wollen.”

„Und … wo ist Ihr Chef?”

„Thanatos? Ich weiß nicht. Irgendwo … Einer muss ja die Toten abholen. Sehen Sie das hier?” Heiko zeigte auf seine Sonnenbrille. „Da ist 'ne Kamera drin. Thanatos sieht, was ich sehe und hörte, was ich höre. Und sage.”

„Wow! Hightech in der Unterwelt.”

„Äh … klar!”, sagte der Schnitter. „Auch die Götter müssen mit der Zeit gehen.”

„Aha … Stimmt das, dass der Teufel hinter Facebook steckt?”

„Der Teuf … Lucifer? Nee, der ist eher konservativ. Lu hat mit Computern nichts am Hut. Nein, Facebook ist eine Erfindung der Menschen. Auf eine so bekloppte Idee kommt nicht mal Zeus und der steht auf alles, was neu aussieht, blinkt und glitzert. Unter uns: Deshalb sucht sich der alte Knabe immer wieder junge, knackige Damen und lässt Hera links, wahlweise rechts liegen. Sie blinkt und glitzert nicht mehr. Aber nicht weitersagen.”

Der Kapitän zog imaginär einen Reißverschluss zwischen seinen Lippen zu, verschloss den Mund und warf den Schlüssel weg.

„Wie funktioniert eigentlich so ein Pott?”,fragte Heiko den Seemann.

„Ist ganz einfach”, erklärte der Seebär. „Mit dem Rad hier steuert man. Wie im Auto. Das hier ist der Maschinentelegraf. Vorwärts, rückwärts, halbe Kraft, volle Kraft. Hier sind die Strahlruder. Wird nur zum Manövrieren auf engen Raum benutzt. Warum?”

„Nur neugierig. Kann man so ein dickes Teil wirklich alleine steuern? Nur mit dem Joystick?”

„Aye!”

„Aye? Sagen doch eigentlich nur die Schotten!”

„Whiskey trinken doch auch nicht nur die Schotten.”

„Stimmt.”

„Erfährt eigentlich jemand, in welcher Nachwelt ich bin?”

„Nun, die für Sie zuständigen Götter haben eine Akte. Bei Atheisten werden die Akten zentral bei Thanatos geführt. Es unterliegt natürlich alles dem Datenschutz. Keines wird etwas erfahren.”

„Gut”, sagte der Kapitän. „Dann trete ich jetzt aus der Kirche aus, werde Atheist und möchte auf eine nicht ganz so einsame Insel mit hübschen junge Frauen.”

„Höre ich öfter. Zeus will da auch immer hin.”

„Naja”, druckste der Harald Olafson, „es geht nicht so sehr ums Blinken und Glitzer, das meiner Frau fählt.”

„Fehlt”, korrigierte der Schnitter-Azubi.

„'tschuldigung, stimmt. Nein, es geht darum, dass meine Frau nervt. Harald, tu dies, Harald komm ins Bett, Harald, massiere mir den Hintern – ich genieße jede Sekunde auf See, weil ich hier Ruhe vor ihr habe. Also bitte bringt mit irgendwohin, wo sie nicht sein wird.”

„Geht klar. Wir haben da ein paar tolle Angebote.”

Harald Olafson lächelte selig. Ja, so ließ er sich das Nachleben gefallen.

„Sollten wir nicht langsam los?”

Heiko schüttelte den Kopf. „Hab' noch was zu erledigen.”

„HALTE DICH NICHT SO LANGE AUF, JUNGE!”, dröhnte ein Stimme durch das Off. „AUF DEM SCHIFF IST KEIN AUFTRAG MEHR.”

„Das war der Chef”, erklärte Heiko. „Ich weiß, dass der Käpt'n der einzige ist”, wandte er sich an Thanatos. „Darum geht’s ja. Muss hier noch was erledigen.”

„Wenn Ihr Chef sagt, dass … Ich meine, Sie sollten sich nicht unnötig Ärger einhandeln.”

„Schon gut, vertrauen Sie mir Käpt'n.”

„HEIKO!”

„Einen Augenblick noch Chef!”

„Worauf warten wir noch?”, wollte Käpt'n Olafson wissen.

„Darauf”, sagte der Schnitter und zeigte auf den Radarschirm.

„Ein … ein Eisberg?”

„Direkt voraus”, grinste Heiko. „Sie sollten das Schiff in Titanic umtaufen.”

„Sie meinen …”

„JUNGE; DU BIST FERTIG! KOMM ENDLICH ZURÜCK!”

Heiko antwortete nicht sondern trat auf den toten Körper des Kapitäns zu. Er legte seine Hände auf den Nacken des Kapitäns und schloss die Augen. Der Körper bewegte sich und stand auf.

„Sapperlot!”, staunte Olafsons Geist.

„HEIKO, DU …”

„Es steht niemand außer dem Käpt'n in den Bücher”, erklärte Heiko seinem Chef mit geschlossenen Augen. „Wenn der Pott auf den Eisberg läuft …”

„KOMM SCHON! ES STEHT KEINER WEITER IN DEN BÜCHERN. SIE WERDEN GERETTET.”

Heiko schüttelte den Kopf und ließ den Körper des Kapitäns die Maschine mit voller Kraft rückwärts laufen.

„Hier ist kein Schiff in der Nähe, dass die Seeleute aufnehmen könnte, Chef!”

Der Körper des Kapitäns riss das Steuerruder hart nach backbord und stellte die Strahlruder ein. Die Bewegung der „North Star” verlangsamte sich, aber nicht genug. Die Strahlruder drückten den Rumpf nach links. Der Eisberg kam näher. Näher, näher, näher … und war längsseits. Heiko stellte die Ruder auf einen Geradeauskurs.

„Puh! Das war knapp!”

„ÄH … DAS IST NICHT UNSERE AUFGABE, JUNGE.”

„Ihr wollt Euch doch nicht mit den Nornen anlegen, Meister!”

„ÄH … NEIN, LIEBER NICHT. KOMM JETZT NACHHAUSE!”

„Schon unterwegs.”

***


„WARUM HAST DU GEZÖGERT?”, fragte Thanatos, als Heiko sich nach seiner Rückkehr bei ihm meldete.

„Die Seeleute wären draufgegangen.”

„Du arbeitest jetzt für den Tod. Leben retten ist nicht unsere Aufgabe.”

„Ich arbeite für den Tod, richtig. Aber ich bin ein Mensch. Ich glaube, meine moralischen Bedenken sind das, was Euch fehlt, Chef. Wir ergänzen uns hier.”

„DAS MAG SEIN. TROTZDEM …”

„Was in den Büchern steht, können wir nicht dem Zufall überlassen. Also habe ich Sorge getragen, dass die Bücher recht behalten.”

„ES IST UNSERE AUFGABE, DIE TOTEN ZU HOLEN, NICHT DIE LEBENDEN ZU RETTEN.”

„Und trotzdem”, beharrte Heiko, „Sind manchmal wir die einzigen, die dies tun können. Wenn keiner weiter da ist …”

„UND TROTZDEM HÄTTEST DU DEN TOTEN NICHT WIEDER AUFERSTEHEN LASSEN DÜRFEN.”

„Habe ich nicht. Harald Olafson stand neben mir. Ich bewegte nur seinen Körper. Technisch gesehen, war er tot. Ich habe die Regeln eingehalten, Chef. Außerdem gäbe es unnötige Fragen, wenn der Zeitpunkt des Todes des Kapitäns auf eine Zeit vor dem Beinaheunglück ermittelt würde. Die Menschen sind neugierig. Glauben Sie mir, ich bin einer. Sie würden hinterfragen, WER das Schiff gerettet hat, da der Käpt'n schon tot war. So wird der Kapitän nach der erfolgreichen Rettung tot zusammengebrochen sein.”

Thanatos sah seinen Lehrling eine Minute lang aufmerksam an. Heiko kam es länger vor. Wenn man die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Chefs genießt, dauert es subjektiv immer länger. In der Unterwelt kann man sich außerdem auf sein Zeitgefühl nicht verlassen.

„GUT”, sagte der Gott des Todes und lehnte sich zufrieden zurück. „DU HAST GELERNT. DU HAST GELERNT, ENTSCHEIDUNGEN ZU TREFFEN UND DAS RICHTIGE ZU TUN. IST GUT FÜR DAS ABSCHLUSSZEUGNIS.”


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